Warum ich das Bundesratsfoto schiessen möchte

Ich habe mich der Herausforderung gestellt, bis im Jahr 2030 das Bundesratsfoto zu schiessen. Dann bin ich 51 Jahre und hätte also noch genug Saft um das Ganze in Angriff zu nehmen. Natürlich mache ich es auch noch gerne mit 60 – das sollte ich auch noch hinkriegen. 😉

Faszinierende Menschen

Ich liebe Menschen!

Denn Menschen sind so individuell und unterschiedlich, und jeder ist einzigartig. Aussehen, Gedankengut, Motivation, Herkunft, Erziehung, Lebensstil, wie Entscheidungen getroffen werden, usw. All dies ist so unfassbar faszinierend für mich. Und genau das möchte ich auf Fotos abbilden. Ich portraitiere Menschen gerne so, wie sie sind.

In der Schweiz haben wir eine Bundesregierung bestehend aus sieben Bundesrätinnen und Bundesräten, welche aus verschiedensten Parteien kommen. Diese Menschen haben eine politische Karriere hinter sich. Es sind wirklich sehr spannende Charaktere. Und diese Eigenschaften darf man auch auf einem Foto wiedergeben. 

Lange Zeit hat man sich nicht getraut, auf dem Bundesratsfoto die Persönlichkeit der Menschen wirklich zu zeigen. Ab einem gewissen Zeitpunkt begann sich dies zu ändern. Der formelle Stil wurde etwas gelockert, die Fotos wurden kreativer gestaltet und die einzelnen Persönlichkeiten spürbarer. 

Der wahrscheinliche Shitstorm

Mit dem „Rise of Social Media“ (ca. ab 2004) ist auch die Reaktion auf das Bundesratsfoto äusserst gross geworden. Oftmals gibt es einen Riesen-Shitstorm. Eine kritische Reaktion auf das Foto gab es früher schon, aber in einem viel kleineren Rahmen. Vielleicht hat man am Stammtisch darüber gemeckert oder in kleiner Runde bei der Kaffeepause im Büro. Man mochte vielleicht eine Person nicht, die gewählt wurde. Oder der gewählte Hintergrund gefiel einem nicht. Doch als das Bundesratsfoto in der Social Media Welt auftauchte, wurden gewaltige Diskussionen in Gang gebracht. Einige Menschen finden das Foto supercool, andere finden es mega blöd, wiederum andere sagen es sei total sinnlos usw.

Das aktuelle Bundesratsfoto von Waadtländer Fotograf Matthieu Gafsou wurde am 31.12.22 veröffentlicht.

Gafsou realisierte das Bild im Auftrag von Bundesrat Alain Berset. Es soll zeigen, dass der Bundesrat trotz unterschiedlicher Meinungen gut zusammenarbeitet und für die Schweiz handelt. Die Landschaft im Hintergrund stellt die Aussenwelt dar und verbindet das Handeln des Bundesrates mit dem des Volkes. Auf dem Tisch liegen ein Kompass, eine Schweizerkarte und eine Ausgabe der Bundesverfassung. Die fliegenden Blätter mit dem Gedicht von Charles-Ferdinand Ramuz symbolisieren die heutigen globalen Spannungen und das Chaos in der Welt.

Kaum wurde das Foto veröffentlicht, ging es los mit den kritischen und spöttischen Kommentaren auf Social Media. Das Bild zeige die Ratlosigkeit der Regierung oder es sei zu sehr „inszeniert“ und es fehle der Blickkontakt zum Volk. Am wohl häufigsten wird das Bild mit Leonardo da Vincis Wandgemälde vom „letzten Abendmal“ gleichgestellt. Begleitet von der Frage: Wer hier wohl der Judas sei?

Auch das letzte Bundesratsfoto erregte mit seinem ungewöhnlichen Sujet rasch die Aufmerksamkeit in der Social-Media Welt und der Presse. Die sieben Bundesräte auf einer Schienennetzkarte der SBB sollen gemäss Idee von Ignazio Cassis die Vielfalt und das Verbindende der Schweiz in einer schwierigen Zeit zeigen.

Im Internet teilten sich die Meinungen. Es wurde kritisiert, dass auf der Karte die Verbindungen nach Europa fast vollständig fehlen. Sowohl die Farbe Rosa wie auch die Zeitanzeige auf der SBB-Uhr – 1848 für das Gründungsjahr des modernen Bundesstaates – sorgte für Gesprächsstoff. Viele äusserten sich positiv über die Idee, andere sahen im Zusammenhang mit der Pandemiebewältigung die Zeiger eher bei Fünf nach Zwölf.

Die Kreativität der Internet-User

Und wie jedes Jahr haben Social-Media-User wild am Bundesratsfoto gebastelt und zahlreiche humorvolle Kreationen davon gepostet.

Als mein Freund Beat Mumenthaler im Jahr 2017 das Foto gemacht hatte, war die Reaktion darauf im Grossen und Ganzen positiv. Es bringe die Regierung sympathisch rüber und vor allem sehr nah zum Betrachter. Dies entsprach auch Beats Bildkonzept. Er wollte Nähe schaffen und die einzelnen Persönlichkeiten in den Vordergrund stellen. Die häufigste Kritik, die das Bild fand, war: „Es sieht aus wie das Coverbild von Queens zweitem Studioalbum bzw. dem Musikvideokonzept deren Song «Bohemian Rhapsody» ist.

Ebenso zogen die Schweizer Medien vorwiegend Bezüge zu Queen. Aber auch zu anderen Popkultur-Referenzen. Der «Tagesanzeiger» schrieb, die hellen Gesichter auf dunklem Hintergrund würden an das Mafia-Filmplakat von «Goodfellas» erinnern. Die Zeitung «Blick» berichtete, dass das schwarz-weiss Bild den Bundesrat im Trauermodus zeige oder an einen traurigen Christbaum erinnere.

Der Ton wird Jahr für Jahr schärfer

Die fototechnisch grösste Kritik erzeugte das Foto von Markus A. Jegerlehner im Jahr 2021. Nebst pandemiebezogenem Tadel erfolgte eine Aufruhr über die Bildmontage. Auf Twitter schrieben User, die Qualität des Fotos entspreche der Qualität der Arbeit des Bundesrates im Coronajahr. Nicht einmal die Proportionen stimmen. Dieses Foto hätte ein Mediamatiker-Lehrling mindestens genauso gut hingekriegt, nur viel günstiger. Solche Kommentare greifen den Fotorafen direkt an und sind aus meiner Sicht gar nicht nötig. Und trotzdem gibt es sie.

Für mich ist es spannend mitzuverfolgen, wie sich die Gesellschaft über dieses Foto teilen kann. Es bewegt etwas. Auf einem kleinen Knotenpunkt kommen verschiedene Gesellschaftsschichten und Meinungen zusammen. Es kocht in der Masse, sorgt für Auseinandersetzungen und Medienrummel. 

Umgang mit der Nachwirkung

Und hier kommen wir zum zweiten Teil meiner Motivation. Ich möchte meine Komfortzone verlassen und erleben, wie ich auf solch eine kritische Masse reagiere. Denn es wird garantiert Menschen geben, die das (also mein) Bild blöd finden und dies öffentlich kommunizieren. Einige werden vermutlich ein Riesentheater machen. Vielleicht werden sogar die Medien darüber berichten, wie doof sie dieses Bild finden. Ich will entdecken, was das mit mir macht und vor allem welchen Lernprozess ich aus dieser Erfahrung mache.

Kann ich die Menschen mitnehmen auf die Reise zum Bundesratsfoto?

Dies ist das Experiment, das ich gerne machen möchte. Was geschieht, wenn ich das Volk beim Entwickeln des Bildkonzepts mitbestimmen lasse? Ich poste Fragen wie: Soll das Foto eher hell oder dunkel sein? Welches Outfit sollen die Bundesrätinnen und Bundesräte tragen – formell mit Krawatte oder Business-casual? Wie soll das Gruppenfoto aussehen? Sollten die Bundesrätinnen und Bundesräte einzeln abgelichtet- und dann digital auf einem Foto zusammengestellt werden? Oder sollen alle miteinander an einem Ort stehen und so fotografiert werden? Gibt es etwas, was auf dem Foto miteinbezogen sein sollte? Sind wir in der Natur oder im Bundeshaus? Integrieren wir noch etwas, wodurch die Bundesrätinnen und Bundesräte etwas über ihre Persönlichkeit verraten können? Zum Beispiel mit einem Lieblings-Gadget wie einem Hut, einem Buch, ein Tablet, Gummistiefel oder andere persönliche Gegenstände. Mit all diesen Finessen würde ich das Volk gerne über einen Zeitraum mitnehmen in einem demokratischen Prozess. Es reizt mich sehr, herauszufinden, ob und wie die Leute teilnehmen. Auch interessiert mich die Frage, ob ich mit der Miteinbeziehung des Volkes den Shitstorm etwas reduzieren kann? Oder verursacht gar dies eine Welle negativ-emotionaler Kommentare? 

Jeder Sturm vergeht

Allen Wünschen kann man, in den meisten Fällen, nicht gerecht werden. Das ist schon jetzt klar. Ohne vorab die Standardsuchmaschine Google zu benutzen – an wie viele Fotografen kannst du dich mit Namen erinnern, die das Bundesratsfoto gemacht haben?

Bei mir ist es genau einer – und das auch nur weil er mein Freund ist. Deshalb mache ich mir keine Sorgen, dass dies reputationsschädigend wäre. Denn nach nur einem Jahr kommt bereits die nächste Person, die das Bundesratsfoto machen darf.


Bildquelle von diesem Beitrag: «Schweizerische Bundeskanzlei»